Časopis Slovo a slovesnost
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Zur Wechselbeziehung zwischen gesprochenem und geschriebenem Deutsch

Alena Šimečková

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K vztahu mezi mluvenou a psanou němčinou

0. Im heutigen Deutsch wird immer wieder eine auffallende Auflockerung der Sprachnormen verzeichnet. Diese Erscheinung wird v. a. in der gesprochenen Sprache registriert; die im Geschriebenen vorkommenden ’Auflockerungen’ werden dann dem Einfluß des Gesprochenen zugeschrieben (vgl. Glück/Sauer, 1990).

Die entsprechenden Behauptungen in der einschlägigen Literatur beziehen sich einerseits nur auf die Standardsprache, in der es infolge der immer stärkeren Durchsetzung der natürlichen Norm zur Diskrepanz zwischen Norm und Kodifizierung[1] kommt, andererseits auf die gesprochenen Varietäten (Umgangssprachen und Dialekte), deren Einfluß die Standardsprache durch Vermittlung ihrer gesprochenen Form ausgesetzt ist.

Der eine Gesichtspunkt betrifft entweder nur die Aussprachenormen[2] oder auch andere Bereiche. Nach Glück/Sauer (1990) seien „die Standardnormen für die gesprochene Sprachform in den vergangenen Jahren lockerer geworden” und „die Abweichungen von der Hochlautung, auch in der gemäßigten Variante” seien „eher die Regel” (S. 29–30). Im Bau der standardsprachlichen Mitteilung sollen außer den lexikalischen auch einige grammatische ’Auflockerungen’, wie z. B. der Rückgang des Genitivs, die Verbreitung der analytischen Konstruktionen, die Ausklammerung und einige intonatorisch gestützte topologische Abwandlungen der Nebensätze auf das Konto der gesprochenen Sprache gehen.

Der andere Gesichtspunkt hebt die immer größere Rolle hervor, die die umgangssprachlichen Mittel in den Sphären der öffentlichen Kommunikation zu spielen beginnen, wo bisher normalsprachliche oder gehobene Mittel vorherrschten.

Auf die Auflockerung in diesem Sinne gehen wir im folgenden ein mit dem Ziel, den Charakter der angenommenen Übergänge zwischen Gesprochenem und Geschriebenem zu untersuchen. Von den Merkmalen, die dem Begriff ’umgangssprachlich’ zugesprochen werden (bisher ist es noch nicht gelungen, „einen einigermaßen befriedigenden Konsens der Definitionen … herbeizuführen”, vgl. Braun, 1972, S. 118),[3] d. h. (a) gesprochen, (b) unter der normalsprachlichen Schicht liegend, (c) regional und (d) pejorativ[4] werden dabei besonders die ersten zwei berücksichtigt.

 

1. Von den lexikalischen Signalen der ’Auflockerung’ interessiert uns hier eine Erscheinung, die nicht nur auf den Wortschatzbereich beschränkt bleibt.

Im spontanen gesprochenen Deutsch der nichtöffentlichen Sphäre begegnet man bestimmten einprägsamen unfesten Verben, die als umgangssprachlich empfunden [229]werden, z. B. hinhauen (Es hat ihn mit dem Fahrrad ganz schön hingehauen), hinkriegen (Der Arzt kriegt ihn wieder hin), angeben (Dieser Mann gibt mächtig an), kaputtreißen (Sie hat sich den Rock kaputtgerissen) u. a. m.

Im mehr formellen gesprochenen (bzw. auch im geschriebenen) Deutsch würden diesen Verben andere, neutrale Verben entsprechen, etwa : stürzen (Er ist mit dem Fahrrad gestürzt), heilen (Der Arzt heilt ihn wieder), prahlen (Dieser Mann prahlt zu sehr mit seinen Erfolgen) oder zerreißen (Sie hat sich den Rock zerrissen). Es kommt aber häufig vor, daß der Sprecher das umgangssprachliche Verb von der vertraulichen in die offizielle Sphäre überträgt, weil es ihm in der entsprechenden Situation passender zu sein scheint als das neutrale. So werden die Entsprechungen stürzen, heilen, prahlen und zerreißen von manchen Sprechern auch in der offiziellen Sphäre als unangemessen empfunden und vermieden.

 

2. Der Mechanismus der Zuteilung des Merkmals ’umgangsprachlich’ den unfesten gesprochenen Verben der erwähnten Schicht ist in den lexikographischen Werken (die eigentlich den Konsens mehrerer Sprachträger in dieser Hinsicht widerspiegeln sollten) nicht einheitlich. In den Nachkriegsjahren ist es zur deutlichen Verschiebung in der Markierung gekommen. In älteren Verzeichnungen fehlen diese Verben völlig, später werden sie mit umgangssprachlicher Markierung aufgenommen, die dann in den letzten Jahren zurücktritt. Was die Markierungsart betrifft, werden als ’umgangssprachlich’ sowohl das der Basis vorangehende Präverb als auch das Basisverb schon als Wörter im freien Gebrauch markiert, und folglich auch die Verbindung der beiden. Überraschend wirkt die Markierung nur dort, wo beide Komponenten im freien Gebrauch der neutralen Schicht angehören.

Zu den als ’umgangssprachlich’ markierten Präverbien gehören die mit her– und hin– zusammengerückten (z. B. hinauswerfen), die sich durch ihre Situationsgebundenheit und die Verdeutlichung des Richtungsmerkmals von den einfachen Präverbien unterscheiden. Geht ihre Situationsgebundenheit verloren, so werden sie normalsprachlich und in mediolektaler Hinsicht neutral.

Kennzeichnend für das gesprochene Deutsch sind die verkürzten Formen der erwähnten Präverbien, z. B. ran– für heran–, raus– für heraus–, rein– für herein– u. a. m., die noch durchgehend für umgangssprachlich gehalten werden (z. B. sich ranhalten = sich bei der Arbeit beeilen; reinkommen, jdn. rausschmeißen usw.). Für die Auflockerung der Norm zeugt auch der Umstand, daß sie in der letzten Zeit in die Wörterbücher der Standardsprache aufgenommen werden. Zwischen der vollen und der verkürzten Form entwickeln sich schon semantische Unterschiede (z. B. herangehen an etw. = sich einer Sache nähern, mit etw. beginnen; rangehen = 1. herangehen, 2. direkt auf ein Ziel zugehen).

Als ’umgangssprachlich’ werden auch einige Basisverben markiert, die im Gesprochenen als Substitute gebraucht werden (z. B. kriegen, machen, tun u. a. m.). Sie verbinden sich mit markierten oder unmarkierten Präverbien zu einem umgangssprachlichen unfesten Verb (z. B. hinkriegen, blaumachen, sich schwertun, etw. in etw. reintun).

Die im freien Gebrauch als umgangssprachlich markierten Komponenten büßen in Verbindung miteinander nicht ihre Markierung ein (z. B. ugs. fummeln – ugs. herumfumeln).

Die Komponenten einiger idiomatisierter Verben mit umgangssprachlicher Markierung (sehr oft sind es neuentstehende Verben mit einem Adjektiv als Präverb) sind im freien Gebrauch neutral (z. B. flach, fallen) und unterscheiden sich daher in der Markierung von der Verbindung (z. B. ugs. flachfallen : Das Frühstück fällt heute flach, d. h. findet nicht statt).

 

3. Der letztgenannte Fall wirft die Frage auf, ob außer dem Charakter der beiden Komponenten als lexikalische Einheiten auch der potentiellen ausdrucksseitigen [230]Zweigliedrigkeit, d. h. der Trennung der finiten Formen als morphologischer Eigenschaft – ohne Rücksicht auf die lexikalische „Füllung” – das umgangssprachliche Merkmal anhaftet.

Diese Annahme bestätigt sich bei den Verben mit den „doppelförmigen” Präverbien (z. B. durch–, hinter–, voll– u. a. m.). Von den Varianten er bohrt das Brett durch/er durchbohrt das Brett wird die erste von einigen Muttersprachlern als umgangssprachlich empfunden. Noch deutlicher ist der Unterschied zwischen den Varianten mit hinter– und voll–; die unfesten sind umgangssprachlich salopp bis vulgär (z. B. er goß einen Schnaps hinter, er schlug ihm den Buckel voll), während die festen (z. B. hinterlassen, vollenden u. a. m.) als gehobene Ausdrücke in der öffentlichen Sphäre gebraucht werden.

Die den einfachen Verben konkurrierenden unfesten Bildungen sind aber außer diesen Randgruppen auch in der normalsprachlichen Schicht stark vertreten; nähere Untersuchungen zum Verhältnis der beiden Verbbereiche stehen noch aus. Es scheint eher angebracht, die übergeordneten Faktoren zu berücksichtigen, u. zw. den nominativen und den syntaktischen.

 

4. Vom nominativen Aspekt fällt die bevorzugte Gegliedertheit der Bezeichnung des Geschehens (v. a. des Vorgangs und der Tätigkeit) einerseits und der Umstände (v. a. der Lokalumstände) andererseits in einer lexikalischen Einheit von vagem Wortstatus auf, vgl.

 

öffnen

 

aufklappen (Messer, Buch)

 

 

aufstoßen (Fenster, Tür)

 

 

aufziehen (Schublade, Vorhang)

 

 

aufreißen (Brief, Augen)

 

ugs.

aufmachen

 

 

 

 

aufbringen

 

 

 

 

aufkriegen

Tür, Kiste

 

 

 

aufbekommen

 

 

 

 

auftun

 

auch: Laden, Augen

 

In der gegliederten neutralen Bezeichnung wird das einfache „öffnen” sowohl im Lokalumstand (auf–) als auch in der Tätigkeit (klappen, stoßen, ziehen, reißen) nuanciert und präzisiert. Die gegliederten umgangssprachlichen Bezeichnungen funktionieren eher als Substitute, besonders im Gesprochenen der inoffiziellen Sphäre. Die in der Gegenwartssprache deutlich vorherrschenden gegliederten Bezeichnungen fügen sich ebenso wie viele andere lexikalische und grammatische Konstruktionen in die Zweigliedrigkeit der Prädikatsgruppe ein, unterordnen sich der syntaktischen Gesetzmäßigkeit der Rahmenkonstruktion, die prinzipiell in den beiden Mediolekten zur Geltung kommt.

 

5. In der gesprochenen Sprache wird infolge des Auseinandertretens des verbalen Komplexes der tonlose Anfang der Phrasierungseinheit bei der Zweitstellung der finiten Form mit geeigneten Elementen besetzt, das betonte rahmenschließende Element tritt im akzentuierten Bereich auf. Für das spontan Gesprochene ist es aus dem Grunde günstig, daß die Umstände des Geschehens akzentuell und positionsmäßig hervorgehoben werden können. Im Geschriebenen trägt die Möglichkeit des Abschlusses einer Aussage durch die zweite Komponente des unfesten Verbs zur inhaltlichen Abrundung bei. Durch die Verkürzung des Rahmens oder die Ausrahmung der eingeschlossenen Teile entstehen für die beiden Mediolekte unterschiedliche Variationsmöglichkeiten. In dieser Hinsicht scheint die gelegentlich geäußerte Ansicht bedenklich zu sein, daß die in der Gegenwartsprache verzeichneten Ausrahmungen im [231]geschriebenen Deutsch eine Folge des Einflusses des gesprochenen Deutsch seien. In den beiden Fällen handelt es sich um die Ausnutzung eines topologischen Prinzips nach den Realisierungsbedingungen; im Gesprochenen kann ein kürzerer Rahmen wegen der Gedächtniskapazität vorgezogen werden, im Geschriebenen (hauptsächlich im elaborierten Text) sind die Ausrahmungen eher ein stilistisches, bewußt eingesetztes Mittel.

Auch hier zeigt es sich, daß die Grenze nicht primär zwischen Gesprochenem und Geschriebenem, sondern zwischen Informellem und bewußt Gestaltetem verläuft. Die umgangssprachlichen Mittel dienen dem informellen Bereich als „Medium der Entlastung” (Gehlen, 1967), auch die ausdrucksseitige Organisation der Aussage trägt durch ihre Auflockerung zu der Entlastung bei, denn das formelle (ob im Gesprochenen oder im Geschriebenen) ist anspruchsvoller, was die Präzision des Ausdrucks und der Gestaltung betrifft.

 

6. So läßt sich die heutige Auflockerung der Sprachnormen im Deutschen wahrscheinlich in den beiden eingangs erwähnten Aspekten auf einen gemeinsamen Nenner bringen, d. h. auf die sich verändernde Einstellung der Sprachträger zur Einhaltung der abweichenden Normen des vertraulichen Bereichs einerseits und des öffentlichen Bereichs andererseits. Die Bereitschaft, strikte Normen der offiziellen Sphäre einzuhalten, läßt nach, und damit auch die Bereitschaft zum Aufgeben der kolloquialen bzw. regionalen Merkmale im eigenen Sprachgebrauch. Der ständige Wechsel der beiden Mediolekte in der täglichen Kommunikation sowie eine größere Toleranz gegenüber nichtstandardsprachlichen Varietäten und der gesprochenen Sprache überhaupt führen in der letzten Zeit zur Verringerung des Abstands zwischen den Normen der nichtöffentlichen und der öffentlichen Sphäre.

 

LITERATUR

 

Braun, P.: Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1972.

Bußmann, H.: Lexikon der Sprachwissenschaft. 1. Aufl. Stuttgart 1983; 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 1990.

Gehlen, A.: Anthropologische Forschung. Reinbek 1967.

Glück, H. – Sauer, W. W.: Gegenwartsdeutsch. Stuttgart 1990.

Trost, P.: Formelle und informelle Rede. In: Logos Semantikos. Studia linguistica in honorem Eugenio Coseriu. Berlin – New York 1981, S. 105–108.

 

R É S U M É

K vztahu mezi mluvenou a psanou němčinou

Příspěvek zaujímá postoj k názorům, podle nichž se uvolňování norem v současné spisovné němčině přisuzuje působení mluveného jazyka na psaný. Uvolnění norem se však projevuje v obou mediolektech a lze je spíše chápat jako důsledek změny v postoji nositelů jazyka, jejichž neochota podřídit se striktním normám oficiální sféry vede k sbližování norem důvěrné a oficiální komunikace.


[1] Hier werden die Termini „Norm” und „Kodifizierung” im Sinne der Prager Schule gebraucht. In der germanistischen Linguistik haben sie sich nur begrenzt (v. a. bei den Linguisten der ehemaligen DDR) eingelebt.

[2] Im Bereich der Orthographie wird noch mehr auf die Einhaltung der Standardnormen geachtet. Ihre Verletzung gilt bei den Sprachnutzern als Zeichen von „beschränkter Intelligenz, Charakterlosigkeit oder sozialer Deklassiertheit” (Glück – Sauer, 1990, S. 31).

[3] Unter „Umgangssprache” ist entweder der heterogene Bereich der Sprachvarietäten zwischen Standardsprache und kleinräumigen Dialekten zu verstehen oder die für informelle Situationen geeignete Stilschicht (vgl. Bußmann, 1990).

[4] Charakteristisch für die Umwertung des Terminus „umgangssprachlich” ist auch die Verzeichnung des ihm gelegentlich anhaftenden abschätzigen Merkmals. Bußmann (1983, S. 591) führt noch seine „leicht abwertende Konnotation” an; in der Neubearbeitung des Lexikons (1990, S. 814) wird das pejorative Merkmal nicht mehr erwähnt.

Filozofická fakulta Univerzity Karlovy
Praha

Slovo a slovesnost, ročník 54 (1993), číslo 3, s. 228-231

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