Časopis Slovo a slovesnost
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Der Einfluss sozialer Faktoren auf die Entwicklung der Sprache in der sozialistischen Gesellschaft

Wolfdietrich Hartung (Berlin)

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Влияние социальных факторов на развитие языка в социалистическом обществе / The influence of social factors on the development of language in the socialist society

1. Wissenschaftsgeschichtliche Aspekte

Die Tatsache, dass es irgendwelche Zusammenhänge gibt zwischen einer Sprache und bestimmten, sie prägenden sozialen Faktoren, die Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, in der diese Sprache verwendet wird, kann als umstritten gelten. Im Prinzip ist eine solche Sehweise auch nicht neu. Über Jahrhunderte hin wurde mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die Überzeugung geteilt, dass sich in einer Sprache etwas Nationales (und damit in einem weiteren Sinne auch Soziales) ausdrückt, dass Sprachliches, insbesondere eine bestimmte Verwendung von Sprache, bedeutsam sein kann für nationale wie für soziale Prozesse und dass mit Veränderungen im sozialen und nationalen Leben Veränderungen in der Sprache oder in der Art, in der die Leute sprechen, einhergehen. Eigentlich zeugt die ganze Geschichte, auch die der Linguistik, davon, dass die Menschen stets ein sehr feines Gefühl für die soziale Bedeutsamkeit von Sprachlichem besassen. Insofern gibt es durchaus eine Kontinuität in der Anerkennung einer bestimmten Gesellschaftlichkeit der Sprache. Wechsel zeigen sich allerdings in den Schwerpunkten des Interesses an der Gesellschaftlichkeit. Diese Wechsel hängen ab von den in einer bestimmten historischen Periode herangereiften praktischen Problemen sowie auch von verschiedenen innerwissenschaftlichen Entwicklungen. Beides verändert die Bedingungen, unter denen ein praktisches Problem den Menschen als solches bewusst wird, und es verändert die jeweiligen Begriffssysteme, die für die Problemformulierung und -bewältigung zur Verfügung stehen.

Linguisten in den sozialistischen Ländern haben der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit sprachlicher Phänomene relativ früh ein starkes Interesse entgegengebracht, das wenigstens teilweise besonders motiviert war und das auch durchaus charakteristische eigenständige Ergebnisse hervorgebracht hat. Damit sind sie in manchen Punkten einer internationalen Entwicklung, die stärker erst in den 60er und 70er Jahren einsetzte, voraus gewesen. Für das besondere Interesse der Linguisten sozialistischer Länder an der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit der Sprache gibt es zwei Grundlagen: erstens das verbreitete Bemühen, den dialektischen und historischen Materialismus für eine theoretische Vertiefung linguistischer Fragestellungen zu nutzen und zweitens ein besonderes Verhältnis zur Lösung jener praktischen Aufgaben, die die Schaffung und Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft stellt.

Der Marxismus ist ganz wesentlich auch eine Theorie der Bewegung und Entwicklung der Gesellschaft. Also lag es nahe, dass die Marxisten unter den Linguisten darüber nachzudenken begannen, welchen Platz Sprache und sprachliche Kommunikation im gesellschaftlichen Leben einnehmen und wie sich Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der Gesellschaft im sprachlichen Bereich niederschlagen, dessen Bewegung und Entwicklung prägen, mitbestimmen oder modifizieren. Nicht, dass allein diese Linguisten in eine solche Richtung zu denken verständen oder dass sie von vornherein den Schlüssel zu den richtigen Antworten in der Hand hätten; aber die Orientierung am Marxismus lenkt ihr Interesse, ihre besondere Aufmerksamkeit, so dass es für sie möglicherweise etwas leichter selbstverständlich geworden ist, nach der gesellschaftlichen Funktion von Sprache und ihrer gesellschaftlichen De[205]terminiertheit zu fragen. Vor allem aber war ihr theoretisches Denken in einem sehr viel stärkeren Masse als das anderer Linguisten darauf gerichtet, Sprachliches nicht als neben Gesellschaftlichem existierend zu begreifen, sondern als einen spezifischen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Was das besondere Verhältnis zur Lösung praktischer Aufgaben betrifft, so ist darauf zu verweisen, dass die sozialistische Gesellschaft eine Schicht von Wissenschaftlern hervorbringt, die sich in ihrer sozialen Zusammensetzung von der in anderen Gesellschaften mehr oder weniger deutlich unterscheidet und deren Forschungsbedingungen von menschen- und meist auch erkenntnisfreundlicheren Beziehungen insofern geprägt sind, als ökonomische und die soziale Existenz des Wissenschaftlers in Frage stellende Grundlagen der Konkurrenz und des Wettbewerbs beseitigt, ihrer destruktiven Schärfe beraubt oder umfunktioniert sind. Im Zusammenhang damit beginnen sich Wertsysteme wissenschaftlichen Arbeitens in einer sozialistischen Umwelt zu verändern. Das macht es möglich, wissenschaftliche Arbeit uneingeschränkter in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Dem Wissenschaftler wird es leichter, sich mit dem gesellschaftlich Erforderten zu identifizieren. Unter diesen Erfordernissen gibt es nun — in bezug auf mögliche Praxisbeziehungen der Linguistik — besonders viele, die aus für den Sozialismus spezifischen sozialen Prozessen erwachsen: aus der Beseitigung von Bildungsschranken mit ihren Forderungen an und Konsequenzen für das Niveau der Kommunikationsfähigkeit; aus sozialen Umschichtungen verschiedenster Art, die stets auch Umschichtungen in den Ausprägungen von Redeweisen sind; aus der grundsätzlichen Möglichkeit für Individuen wie für ethnische Gruppen, sich in einer von Unterdrückung freien Umgebung auch sprachlich zu entwickeln. Also lenkt auch das neue Praxisverständnis auf eine bewusstere Beachtung „sozialer Faktoren“ hin. Und die Organisationsformen der sozialistischen Gesellschaft schaffen neue Möglichkeiten der Umsetzung der dabei erreichten Forschungsergebnisse.

Stimuliert durch diese beiden Grundlagen — die Orientierung am Marxismus und ein besonderes Verhältnis zur Umgestaltung der gesellschaftlichen Praxis — haben Linguisten der sozialistischen Länder wichtige Beiträge zur Entwicklung einer Linguistik geleistet, die theoretisch wie praktisch die Gesellschaft zu einem wichtigen Ausgangspunkt macht.

 

2. Ursachen, historische Dimension und soziale Bedeutsamkeit sprachlicher Differenzierungen

Besondere Aufmerksamkeit unter den von sozialen Faktoren in einer spezifischen Weise abhängigen sprachlichen Phänomenen verdient das Vorhandensein verschiedenartiger Differenzierungen einer gegebenen Sprache, oder — unter dem Gesichtspunkt der einzelnen Sprecher — die Tatsache, dass sich die Sprecher im Gebrauch der Sprache voneinander unterscheiden, und zwar nicht zufällig und individuell determiniert, sondern durchaus regelmässig und sozial determiniert. Deshalb soll im zweiten Teil meiner Ausführungen versucht werden, Wesen und soziale Bedeutsamkeit solcher Differenzierungen in einer etwas allgemeineren Weise herauszuarbeiten.

Der Begriff der „sozialen Bedeutsamkeit“ ist zunächst noch etwas unpräzise. Er ist oft mehr Verweis auf eine bestimmte Art von Wichtigkeit als Bestandteil eines Begriffssystems, das einen bestimmten Objektbereich wissenschaftlich abbilden kann. Eine ausreichende Präzisierung wird auch dadurch noch nicht erreicht, dass man zeigt, wie verschiedene Merkmale des Sprachgebrauchs und Gegebenheiten einer sozialen Wirklichkeit (etwa Sprechereigenschaften und charakteristische Merkmale von Situationen) miteinander korrelieren. Wenn „soziale Bedeutsamkeit“ mehr als [206]ein vager Verweis auf Wichtigkeit werden soll, müssen wir das in unsere Betrachtungen einbeziehen, was auf der Ebene des gesellschaftlichen Bewusstseins an Widerspiegelungen über die kommunikative Wirklichkeit existiert. Und wir müssen vor allem Phänomene der verschiedenen Ebenen in erklärende Beziehungen zueinander bringen; wir müssen zeigen, wie Differenzierungen aus Bedingungen des Kommunizierens hervorgehen und warum sich daraus für beteiligte Sprecher Probleme irgendeiner Art ergeben können, so dass sie den Differenzierungen besondere Aufmerksamkeit zuwenden und sie möglicherweise sogar zum Gegenstand sprachpolitischen Interesses und entsprechender Aktivitäten machen.

Auch der Begriff der „Differenzierung“ bedarf der Präzisierung. Klar ist zunächst einmal, dass uns nur solche Unterschiede in den Redeweisen von Sprechern interessieren, die „sozial bedeutsam“ sind, die also in einem allgemeineren sozialen Zusammenhang existieren und von den Sprechern auch so empfunden werden. Die linguistische Begriffsbildung beschränkt sich jedoch nicht auf die Ebene von Texten oder von Redeweisen. Sie bezieht diese vielmehr auf eine allgemeinere Ebene, auf hinter dem konkreten Verhalten der Sprecher liegende Kompetenzen oder auf „Sprachen“, die als die Repräsentationen bestimmter Eigenschaften solcher Kompetenzen verstanden werden können. Im Falle eines unterschiedlichen Sprachgebrauchs in einer Gesellschaft könnte man also annehmen, dass ihm unterschiedliche Kompetenzen entsprechen, verteilt auf die einzelnen Glieder dieser Gesellschaft oder auch nebeneinander im Kopf des einzelnen Individuums. Diese Kompetenzen können dann repräsentiert werden als Bestandteile des umfassenden und relativ abstrakten Begriffs einer bestimmten Einzelsprache (Deutsch, Russisch usw.). Die Definition solcher Begriffe und ihre Abgrenzung voneinander bereitet im einzelnen allerdings erhebliche Schwierigkeiten, die die Diskussionen der Linguisten bereits seit Jahrzehnten prägen. Relativ einig ist man sich, dass Sprachen aus so etwas wie Subsystemen oder Varietäten bestehen bzw. uns in Gestalt von Varietäten entgegentreten, während etwa der Begriff „die deutsche Sprache“ einen abstrakteren Inhalt hat und sich, je nach Auffassung, entweder auf die Gesamtheit aller vorkommenden Varietäten oder auf einen Durchschnitt bestimmter Eigenschaften dieser Varietäten bezieht. Konstitutiv für Varietäten ist, dass sie über eine hinreichende Menge sprachlicher Charakteristika verfügen und in dieser Gesamtheit geeignet sind, bestimmte kommunikative Aufgaben zu erfüllen (in dieser vagen Definitionsbasis liegt verständlicherweise ein wichtiger Ansatzpunkt für unterschiedliche Auffassungen). In bezug auf funktionale Bedingungen wird meist zwischen regionalen, sozialen und situativen Varietäten unterschieden, beziehbar etwa auf Mundarten, Gruppensprachen oder Fachsprachen. Natürlich unterscheiden sich diese Varietäten nicht in allen Elementen, sie überlappen sich mehrfach untereinander.

Ein grundsätzliches Problem dieses Begriffsapparates besteht darin, dass er die tatsächliche Verschiedenartigkeit und auch Verschiedenwertigkeit der einzelnen Varietäten weitgehend unberücksichtigt lässt. Dem wird ein anderes Konzept besser gerecht: eine und dieselbe Sprache tritt uns in mehreren „Existenzformen“ entgegen, etwa als Standard; als Umgangssprache(n), als Dialekte. Die Existenzformen sind gewissermassen primäre oder fundamentale Kommunikationsmittel für einzelne gesellschaftliche Bereiche. Die besondere Schwierigkeit für dieses Konzept besteht nun allerdings wieder darin, die Vielfalt von Differenzierungen im Sprachgebrauch auf das System grundlegender Existenzformen zu beziehen bzw. die Existenzformen so zu differenzieren, dass sie diese Vielfalt abzubilden vermögen.

Wie kommt es nun zu solchen Differenzierungen der Sprache und der Sprecherkompetenzen? Ein verbreiteter Gedanke ist der, dass jeder Mensch seine besondere kommunikative Erfahrung hat und dass deshalb alle Menschen irgendwie voneinander abweichen würden, wenn sie ihre Erfahrung in der aktuellen Kommunikation [207]wieder veräusserlichen. Damit wird aber nur die subjektiv-individuelle Seite des Problems erfasst, Unterschiede in den Redeweisen werden auf unterschiedliche Grade der Teilhabe an einem kollektiven Sprachbesitz reduziert.

Grundsätzlich gefordert ist zunächst natürlich einmal, dass die in der Kommunikation verwendeten Mittel (Zeichen und ihre Ordnungen) eine gewisse Gleichförmigkeit und Übereinstimmung besitzen. Andernfalls könnten sie nicht von allen Teilnehmern der Kommunikation in einer hinreichend ähnlichen Weise verstanden werden. Man kann sich selbstverständlich vorstellen, dass die Übereinstimmung nicht total sein muss, dass ein Spielraum für Abweichungen vorhanden ist. Wodurch wird dieser Spielraum aber begrenzt? Offenbar nicht durch das Kriterium der blossen Verstehbarkeit. Im allgemeinen gehen die Übereinstimmungen sehr viel weiter, tun die Sprecher sehr viel mehr, als sie tun müssten, wenn es ihnen nur darum ginge, von ihren Partnern verstanden zu werden. Auf der anderen Seite wird das Entstehen von Varianz häufig auch damit in Zusammenhang gebracht, dass die kommunikativ zu lösenden Aufgaben immer komplizierter werden und zu vielfältigen Differenzierungen und Spezialisierungen in den Aufgabenlösungen und den dabei verwendeten Mitteln führen. Auch das kann nicht so ganz direkt zusammenhängen. Die Differenzierungen kommunikativer Aufgaben sind sicher zahlreicher und eingreifender als es entsprechende Differenzierungen der Kommunikationsmittel sind. Es muss also varianzbeschränkende Faktoren geben, die über die Verstehbarkeit hinausgehen und die durch die Differenzierung kommunikativer Aufgaben nicht aufgehoben werden können.

An dieser Stelle ist eine Überlegung angebracht, was eigentlich sprachliche Kommunikation ist. Sie ist, vor allem, eine besondere, den Menschen auszeichnende Art, Gemeinsamkeit zu organisieren. Dies realisiert sich — und zwar in einer Einheit, nicht isoliert voneinander — in einer auf das Kollektiv orientierten Anpassung von Bewusstseinsinhalten, in einem aktuellen Ihformationstransfer und in der Herstellung sozialen Kontaktes. Daraus folgt, dass es bei der Forderung nach intersubjektiver Übereinstimmung der in der Kommunikation verwendeten Mittel gar nicht von vornherein um die hinter ihnen stehenden einzelnen Bewusstseinsinhalte geht als vielmehr um ein möglichst angenähertes Verfügen über die verschiedenen Verfahren, Gemeinsamkeit kommunikativ zu organisieren. Damit ist den Differenzierungen und ihrer sozialen Bedeutsamkeit gewissermassen ein funktioneller Rahmen gegeben: Nicht jeder Unterschied in der kommunikativen Erfahrung ist von gleichem Gewicht.

Mit diesem Verständnis von Kommunikation im Hintergrund können wir uns leicht ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen spezifizierenden und selbst individualisierenden Tendenzen auf der einen Seite und unifizierenden auf der anderen bewusst machen, das den Rahmen für die Entstehung und Wirkung von Differenzierungen abgibt. Spezifizierungen gehen zurück auf sich entwickelnde kommunikative Anforderungen, auf Arbeits- oder Tätigkeitsteilungen, sich herausbildende „günstige“ Arten des jeweiligen Kommunizierens, die entsprechende Prinzipien für die Bildung von Texten ebenso einschliessen wie spezifische Symbolinventare. Unifizierungen gehen auf die gemeinsamkeitsorganisierende Funktion der Kommunikation zurück, auf die daraus resultierenden integrativen und identifikativen Wirkungen von „gleichen Redeweisen”, die den Zusammenhalt von Gruppen und Gemeinschaften verschiedener Art und Komplexität mitbestimmen, von Berufsgruppen bis hin zu ethnischen oder durch Geschichte, Kultur usw. verbundenen Gemeinschaften. Das hat dann zur Folge, dass die Übereinstimmung und Gleichförmigkeit kommunikativer Mittel mit einem sehr viel feineren Interesse bedacht wird, als es für das blosse gegenseitige Verstehen notwendig wäre.

[208]Varianten im Sprachgebrauch können auf zwei grundsätzliche Quellen zurückgehen: Sie können entweder aus (äusseren) Bedingungen des Kommunizierens erwachsen oder aus sozialen Charakteristika der Sprecher.

Die Bedingungen des Kommunizierens zerfallen unter dem Gesichtspunkt der Varianzerzeugung in zwei deutlich voneinander getrennte Bereiche: a) Die bereits erwähnten Differenzierungen in den kommunikativen Aufgaben führen zur Ausbildung aufgabengemässer Mittel. Das können beispielsweise sein: Mittel zum differenzierteren Ausdruck von Sachverhaltsrelationen (was bei der Lösung bestimmter kommunikativer Aufgaben erforderlich wird), zur Erhöhung der Satzkomplexität, zur feineren begrifflichen (terminologischen) Unterscheidung, zur situativen Markierung, zur Effektivierung und/oder Ritualisierung bestimmter Kommunikationsabläufe usw. b) Sprechergruppen befinden sich notwendigerweise in bestimmten territorial zu definierenden Räumen. Solche Räume geben Grenzen für mögliche Kommunikation vor. Historisch haben diese Grenzen zur Ausbildung von Sprachen geführt. Verschiebungen und Relativierungen in den Grenzen, die von der Festigkeit sprachlicher Gemeinschaften und vom Grad und den Bedingungen der territorialen Mobilität der Sprecher abhängig sind, haben die Verbreitung von Sprachen, ihre Annäherung und verschiedenste Beeinflussungen bewirkt. Besonders unter den Bedingungen der Gegenwart sind solche Grenzen vielfach aufgelockert; dadurch ist die Schicht territorialer Differenzierungen — innerhalb grösserer Räume — teilweise in Bewegung geraten.

Die sozialen Charakteristika der Sprecher zerfallen in zwei analoge Bereiche: a) Sprecher haben in unterschiedlichem Masse an der Arbeits- und Tätigkeitsteilung in einer Gesellschaft teil. Das bestimmt unabhängig von den weiteren individuellen Beschränkungen den ihnen jeweils zugänglichen Erfahrungsraum. Entsprechend haben sie einen historisch beschränkten Zugang zu den jeweiligen sprachlich-kommunikativen Mitteln. b) Sprecher sind zumindest teilweise in unterschiedlichem Masse an territorial definierte Räume gebunden. Auf jeden Fall gewinnen sie in solchen Räumen ihre primären kommunikativen Erfahrungen, und sie leben stets auch in einem solchen Raum. Ihre territoriale Mobilität ist aber, abhängig von Beruf, sozialer Stellung und den allgemeinen Möglichkeiten in einer Gesellschaft, unterschiedlich. Das bedingt eine Reihe von Unterschieden im Verhalten territorial charakterisierbarer Sprechergruppen, aber auch Unterschiede im individuellen Verhalten. In gewisser Weise ist die Tätigkeitsteilung der bestimmende Faktor, seine Wirkung kann auch durch ausgedehnte territoriale Mobilität nicht völlig afgehoben werden.

Das Zusammenwirken der verschiedenen Quellen erfolgt vor allem dadurch, dass sich aufgabenbezogene Differenzierungen auf eine bestimmte territoriale Differenzierung stützen; ein weiter verbreiteter Dialekt etwa wird zur Grundlage für die Entwicklung einer sprachlichen Existenzform, die auch in der schriftlichen Kommunikation verwendbar ist. Wenn mehrere Existenzformen nebeneinander existieren, kommt es in der Regel zu einer Differenzierung der kommunikativen Funktionen. Regional begrenztere Varietäten spezialisieren sich meist auf bestimmte Alltagssituationen, während die grossräumiger gültigen und mit der Schriftlichkeit verbundenen Varietäten für zahlreiche offizielle Kommunikationssituationen verbindlich werden. Das führt dann zwangsläufig auch zu Unterschieden in der kommunikativen Leistungsfähigkeit, die zwar keinen prinzipiellen Charakter haben (alle Existenzformen können sich von den in ihnen liegenden sprachlichen Möglichkeiten her in gleicher Weise entwickeln, wenn entsprechende stimulierende Bedingungen gegeben sind), die aber für eine gegebene Entwicklungsperiode doch evident sind.

Die Herausbildung und allmähliche Durchsetzung sprachlicher Standards (Literatursprachen) ist grundsätzlich in Prozesse von ökonomischen oder sozialen, später [209]auch von staatlichen Zusammenschlüssen eingebettet. Solche Prozesse reichen weit in die Vergangenheit zurück, bekommen aber mit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse eine neue Qualität. Für die deutsche Entwicklung gilt — aber das ist keineswegs ein Sonderfall —, dass sich nicht einfach die Sprache einer einzigen Landschaft geradlinig zum Standard weiterentwickelte, sondern dass in diesen vielerlei Ausgleiche eingingen und dass sie zumindest weitgehend auch nur in schriftlicher Kommunikation verwendet wurde. Der entstehende Standard wurde nicht von vornherein von grösseren Sprechergruppen auch gesprochen. Seine zunächst sehr schmale soziale Basis umfasste diejenigen, die Zugang zu den die standardisierten Formen erfordernden Kommunikationsbereichen oder zu entsprechenden Bildungsmöglichkeiten hatten. Infolgedessen hatte der entstehende Standard von Anfang an auch einen elitären Zug, hob sich ab von der Art, in der das einfache Volk sprach, und er war eher schriftlich als mündlich orientiert, angesichts der lange Zeit geringen Verbreitung selbst von rezeptiver Teilnahme an schriftlicher Kommunikation also auch schon deshalb sozial sehr begrenzt. Hinzu kam, dass es in Deutschland stets mehrere Zentren gab, so dass Regionales auch im Sprachgebrauch einen oft relativ hohen Stellenwert hatte. Weithin konnte also gar kein Anlass gesehen werden, Regionales aus den jeweiligen Redeweisen zu verbannen. Im Gegenteil, für die mündliche Kommunikation entwickelten sich ziemlich durchgängig regional gefärbte sprachliche Ausgleichsformen, in der deutschen Linguistik später oft als „Umgangssprachen“ bezeichnet.

Im System der Varietäten bildete sich also ein charakteristisches Spannungsverhältnis heraus zwischen einer in der Masse der Sprecher relativ schwach verwurzelten und sich auch nur sehr allmählich durchsetzenden unifizierenden Tendenz einerseits und einer Fülle regionaler Varietäten andererseits, die von jedem Sprecher beherrscht wurden, die in weiten Kommunikationsbereichen üblich und den Anforderungen angepasst waren (ausser vielleicht den Anforderungen einer überregionalen Kommunikation, die zudem noch in wachsendem Umfang die Schriftlichkeit verlangte). Der gesellschaftlichen Entwicklung entsprach jedoch zweifellos die weitere Ausbildung des Standards. Es kam darauf an, ihn den Bedingungen zahlreicher Situationen schriftlicher Kommunikation immer besser anzupassen. Der gesellschaftlichen Entwicklung entsprach es natürlich auch, dass der Standard im Sprachgebiet möglichst weit durchgesetzt wurde, was ein Geringhalten regionaler Besonderheiten einschloss und die mündliche Verwendbarkeit erforderte, damit die überregionale Existenzform auch sprechbar wurde und die starren Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit relativiert werden konnten. Das verlangte eine Ausdehnung der kommunikativen Geltung und zumindest eine gewisse Erweiterung der sozialen Basis des entstehenden Standards. Der gesellschaftlichen Entwicklung entsprach es aber auch, eine Sprachform zu schaffen und zu verbreiten, die als Ausdruck einer über kleinstaatliche Kommunikationsräume hinausweisenden Zusammengehörigkeit gelten konnte und die geeignet war, als Orientierungspunkt für Einigungsbestrebungen auf staatlicher, zunächst aber einmal auf ideologischer Ebene zu wirken. All dies gab Grundlagen ab für praktische Aktivitäten wie auch für Theoretisierungs- und Ideologisierungsbemühungen.

In der Periode der Herausbildung des Standards stand dies den unmittelbaren kommunikativen Bedürfnissen der Mehrzahl der Sprecher jedoch relativ fern. Das erforderliche Norm-Wissen konnte kaum spontan angeeignet werden, es musste erst vermittelt werden, eingebettet in eine Sprachpolitik, die bestehende Herrschaftsstrukturen stabilisierte, oder im Gefolge meist kurzlebiger oder bald ihres utopisch-progressiven Moments beraubter Ideen von einer allgemeinen Volks-Bildung.

Dem entsprach die Produktion von Leitideen und Bewertungssystemen. Ihr Grundprinzip beruhte auf der Gegenüberstellung von kultivierten, feinen, reichen [210]Redeweisen einerseits und nichtkultivierten, derben, armen andererseits. Jene realisierten den Standard oder kamen ihm nahe, diese verkörperten regionale Varietäten und ihre Mischungen in der mündlichen Rede einfacher („ungebildeter“) Sprecher.

Solche binären Bewertungssysteme hatten sich unter mehr oder weniger vergleichbaren Bedingungen in vielen Gesellschaften herausgebildet. Sie sind eine Form der Ideologisierung von kontroversen Interessen sozialer Schichten an der sprachlichen Differenzierung, die eine gegebene Gesellschaft charakterisiert. Natürlicherweise prägen diese Bewertungssysteme auch das Sprachbewusstsein der Mehrzahl der Sprecher, vermittelt über Schule und öffentliche Meinung. Und sie gehen ein in das Bild, das sehr viele Linguisten von ihrem Objekt haben, durchaus unterschiedlich in der Art der Werte und ihrer Verteilung, aber gleich im Prinzip. Bis ins 20. Jahrhundert hinein und teilweise bis zur Gegenwart ist der Standard für beträchtliche Teile der Sprecher etwas Fremdes oder zumindest weniger Vertrautes geblieben. Der Zugang zu seiner Beherrschung war oder ist nicht ohne weiteres gegeben. Er ist u. a. abhängig von der sozialen Position der Sprecher, von ihrer regionalen Herkunft und von den Merkmalen ihrer dominierenden Tätigkeiten.

 

3. Einige Untersuchungsergebnisse und Schlussfolgerungen

Wir haben in den letzten Jahren mehrere Untersuchungen zur sprachlichen Variation in einem Bereich durchgeführt, der linguistisch durch die Begriffe Standard auf der einen und Umgangssprache bzw. Dialekt auf der anderen Seite charakterisiert werden kann (1981). Es wurden Sprecher in verschiedenen Situationen untersucht, in beruflichen ebenso wie in familiären, in stärker institutionsgebundenen und in institutionell entlasteten. Die Situationen waren weitgehend echt und nicht experimentell hergestellt. Die Sprecher kamen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, hatten eine unterschiedliche regionale Herkunft und unterschieden sich auch im Bildungsgrad, im Alter und einigen weiteren Merkmalen. In allen Fällen wurden Tonbandaufnahmen hergestellt, die dann weitgehend mit Methoden ausgewertet wurden, wie sie in der Soziolinguistik bisher üblich sind.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in mancher Hinsicht sicher nicht überraschend. Einiges entspricht intuitiver Erfahrung, anderes entspricht annähernd den Ergebnissen ähnlicher Untersuchungen. Wir haben mit teilweise differenzierteren Mitteln und Gesichtspunkten Bestätigungen gebracht und natürlich auch Differenzierungen und Präzisierungen bisheriger Resultate. Zwei solcher Präzisierungen sollen in diesem Zusammenhang vor allem hervorgehoben werden.

Gewöhnlich geht man von der Vorstellung aus, dass die Sprecher mehrere Varietäten/Existenzformen einer Sprache beherrschen (ähnlich wie sie mehrere Sprachen beherrschen können) und dass sie in ihrem kommunikativen Verhalten zwischen den jeweils beherrschten Varietäten wechseln, dass sie also je nach Situation oder Vermögen in der einen oder der anderen Varietät sprechen. Tatsächlich bewegen sich die Sprecher dabei jedoch in einem relativ weiten Raum. Es ist schwer, genaue Grenzen für ein solches Wechseln anzugeben. Die Texte erscheinen in bezug auf die Variation oft wie ein Kontinuum. Dennoch scheint es gewisse Regelmässigkeiten zu geben. Sprecher sind, in bezug auf die Variation, durch so etwas wie bevorzugte Redeweisen oder „Normallagen“ charakterisiert. Diese hängen von der jeweiligen kommunikativen Praxis und der kommunikativen Geschichte der einzelnen Sprecher ab (was sich dann u. a. an Korrelationen mit Daten über Beruf, Bildung, Herkunft usw. festmachen lässt). Sprecher haben ausserdem ein bestimmtes Vermögen, sich von dieser Normallage wegzubewegen, und zwar in mehreren Richtungen. Die Weite dieses Vermögens korreliert auch wieder mit verschiedenen das Individuum charakterisierenden Merkmalen. Das konkrete Verhalten wird dann weitgehend durch [211]situative Faktoren bestimmt, unter denen man bestimmte Ordnungen, die Dominanz einzelner Faktoren über andere erkennen kann. Auch über den Umfang, in dem einzelne sprachliche Merkmale betroffen sind, lassen sich gewisse Aussagen machen. Es gibt Merkmale, die einen besonderen Signalcharakter haben und die deshalb zuerst gemieden oder zuerst verwendet werden. Orientierungspunkt dafür ist ein bestimmtes, oft mit divergierenden Wertungen verbundenes Wissen über sprachliche Normen.

Ein anderes wichtiges Ergebnis war dies: Häufig wird angenommen, dass die sprachlichen Prozesse auf diesem Gebiet zu immer weiteren Angleichungen führen, so dass in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft eine Einheitssprache auf einem relativ hohen Niveau entstehen wird, während regionale Sprachformen mehr und mehr absterben. In den Untersuchungen gab es jedoch keine Evidenzen dafür, dass dies stetige Prozesse sind. Trotz aller Angleichungen und trotz der Veränderung der überlieferten Form der Dialekte bleibt ein echtes Bedürfnis nach Differenzierung der Redeweisen und dabei nach Wahrung von Regionalem. Dieses Bedürfnis berührt Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation, damit auch zwischen offiziellen und nicht-offiziellen Kommunikationssituationen. Es ist jedenfalls lebendig und prägt grosse Bereiche der Alltagskommunikation.

Zusammenfassend ist aus unserer Sicht zu unterstreichen, dass die Aufmerksamkeit, die in einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft der Differenziertheit der in ihr gesprochenen Sprache zuteil wird, von folgenden Positionen getragen sein sollte:

1. Der Standard muss als historisch gewachsenes und insofern nicht einfach aufgebbares Resultat des Bemühens vieler Generationen um die Lösung kommunikativer Aufgaben gesellschaftlichen Charakters gefestigt und verbreitet werden. Das schliesst insbesondere die Normierung, die normgemässe Verwendung und die Förderung der Unterrichtung in standardsprachlicher Kommunikation ein.

2. Dabei ist zu beachten, dass die Entwicklung des Standards in der Geschichte durch Konstellationen gesellschaftlicher Kräfte getragen wurde, die sich von den heutigen Konstellationen mehr oder weniger stark unterscheiden. Dies hat vor allem die entsprechenden Wertbegriffe geprägt, so dass langfristig an der Relativierung überkommener und der Begründung neu entstehender Wertbegriffe zu arbeiten ist.

3. Gleichzeitig darf aber nicht vergessen werden, dass Mittel zur Bewältigung kommunikativer Situationen nicht nur im Standard eine spezifische Ausbildung erfahren haben und dass der Standard mindestens auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe nicht alle kommunikativen Möglichkeiten in sich aufnimmt. Nichtstandardsprachliche Varietäten behalten also auch einen besonderen Wert für das Hineinwachsen des Individuums in seine soziale Umwelt.

 

LITERATUR

 

KOMMUNIKATION UND SPRACHVARIATION. Herausgg. W. Hartung - H. Schönfeld. Berlin 1981.

Slovo a slovesnost, volume 45 (1984), number 3, pp. 204-211

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