Miloš Dokulil
[Articles]
K otázce místa tvoření slov v jazykovém systému / К вопросу места словообразования в системе языка / La place de la formation des mots dans le système de la langue
[1]0. Die Frage der Stelle der Wortbildung im System der Sprache und ihrer Beziehungen zu übrigen Sprachgebieten und die damit aufs engste zusammenhängende Frage der Stelle der Wortbildungslehre innerhalb der Sprachwissenschaft gehören zu jenen Streitfragen der theoretischen Sprachwissenschaft, über deren Lösung bisher eine große Meinungsverschiedenheit herrscht.[2]
Das hat wohl seine Gründe: Erstens ist die Wortbildung erst in jüngster Zeit zum Gegenstand der Sprachforschung geworden. Zweitens ist die Natur der Erscheinungen selbst, die den Bereich der Wortbildung bilden, sehr kompliziert: Den Gegenstand der Wortbildungslehre bilden nämlich einerseits die Mittel, Vorgänge und Normen (Regeln), die die Bildung neuer Wörter und bewußte Wiedergabe dieser Bildung ermöglichen, andererseits die formale und semantische Struktur der motivierten Gebilde und die darauf fußenden Wechselbeziehungen zwischen Wörtern als Voraussetzungen ihrer richtigen Deutung bei der Kommunikation, also das System von wortbildenden [10]Mitteln und Vorgängen und das darüberhinaus gehende System von Wortbildungsbeziehungen im Wortschatz. Auch vom Standpunkt der Synchronie müssen wir folglich zwei Aspekte der Wortbildung unterscheiden, den prozesuellen, der auf die Neubildung und Wiedergabe der Bildung der Wörter eingestellt ist, und den strukturell-funktionellen, der auf die Struktur der Wortgebilde und deren Funktion zielt. Die Frage der Zielsetzung und der Absteckung des gegenständlichen Bereichs der Wortbildungslehre ist indessen bei weitem nicht endgültig gelöst.[3]
Die Wortbildung wird einmal als ein Teilgebiet der Grammatik betrachtet, der Morphologie und der Syntax gleichgestellt oder wieder der Morphologie einverleibt, ein andermal als eine selbständige Disziplin aufgefaßt, eng verbunden mit der Grammatik und der Lexikologie, ein andermal schließlich als ein organisches Teilgebiet der Lexikologie behandelt.
1. Wie ersichtlich, ist die Problematik der Stelle der Wortbildung (in dem von uns abgesteckten Bereich) innerhalb des Sprachgebäudes und besonders die Abgrenzung der Wortbildung gegenüber den Nachbargebieten recht kompliziert und eine eindeutige und plausible Lösung ist da zur Zeit kaum zu erwarten. Wir müssen von vornherein damit rechnen, daß wir uns mit einem einseitigen Gesichtswinkel nicht begnügen dürfen, sondern uns um eine komplexe Betrachtungsweise bemühen müssen. Anders wird uns nämlich die Problematik im Plane der Form, des Ausdrucks erscheinen, anders, wenn wir sie vom Standpunkt des ausgedrückten Gehalts, bzw. der kommunikativen Funktion betrachten.
Wir nehmen indessen an, man müsse der Tatsache der Komplexität der Gesichtspunkte auch jene der Hierarchie zwischen diesen Gesichtspunkten entgegenhalten. In unserem Falle heißt das anerkennen, daß der Gesichtspunkt der kommunikativen Funktion dem des Ausdrucksmittels übergeordnet ist. Dieser unserer Überzeugung entsprechend gehen wir von der unbestreitbaren Tatsache aus, daß die Bildung der Wörter vor allem der Nennfunktion der Sprache dient und daß sie folglich einen Sonderfall der Bildung der Benennungen überhaupt (d. h. Sprachmittel, Sprachentiten, die primär der Nennfunktion der Sprache dienen) darstellt, die sich von allen anderen Arten der Bereicherung des Wortschatzes (und, allgemeiner, des Benennungsschatzes) durch den spezifischen Charakter der Repräsentierung unterscheidet, daß sie nämlich ihre Ausdrucksmittel in der Form des Wortes, in seiner morphologischen Struktur hat.
In diesem Sinne bildet die Wortbildungslehre einen Teil der allgemeineren Benennungslehre, d. h. Onomatologie, und zwar den Teil, der sich mit der Bildung der Benennungen im Rahmen eines einzigen Wortes befaßt, aufgrund in der Sprache schon vorhandener Wörter oder, allgemeiner, Ausdrücke (Wörter und Wortverbindungen) durch Veränderung ihrer morphematischen Struktur (vom genetischen Standpunkt aus) und mit den formalen und semantischen Beziehungen solcher (im weiteren Sinn abgeleiteten) Wörter zu anderen Wörtern (Ausdrücken), die als ihre Grundlage empfunden werden (vom Standpunkt der Ergebnisse des wortbildenden Prozesses aus).
2. Da die Wortbildunges nur mit Einwortbenennungen zu tun hat, stellt sie [11]innerhalb der Benennungslehre eine Unterabteilung der Wortlehre (Lexikologie) dar. Da sie jedoch durch morphologische Mittel, d. h. durch Veränderungen der morphematischen Struktur des Wortes verwirklicht wird (das wir als Gesamtheit seiner Formen auffassen), ist die Wortbildung zugleich ein Teil der Morphologie, freilich im weiten Sinne der Lehre von morphematischer Gestaltung des Wortes und seiner Formen. Es ist natürlich die Morphologie im Dienste der Benennungsfunktion, also die Benennungs- oder lexikalische Morphologie, nicht die Flexions- oder grammatische (paradigmatische) Lexikologie (Formenlehre).
3. Zwischen der lexikalischen (derivativen) und der grammatischen (flexivischen, paradigmatischen) Morphologie gibt es wohl in unserem Sprachtypus keine scharfen Grenzen. Einerseits bestimmen die Wortbildungsmittel oft das Wort als Wortart, oder reihen es sogar in ein bestimmtes Paradigma ein (z. B. die Ableitungen auf -heit, -keit sind Substantive weiblichen Geschlechts und gemischter Biegung). Andererseits werden die primär formbildenden Mittel (Endungen und grammatische stammbildende Suffixe) sekundär zu wortbildenden Mitteln, und zwar nicht nur zu Begleitmitteln (bei der Ableitung durch Suffixe), sondern sogar zu Grundmitteln (bei der Konversion, bzw. Nullableitung).[4]
Außerdem reihen sich einige morphologische grammatische Kategorien nicht eindeutig in die flexivische oder derivative Morphologie ein (z. B. der Numerus bei Substantiven — vgl. z. B. die Steine × das Gestein —, Komparativ und Superlativ bei Adjektiven, Nominalformen der Verben u. a.) und ihre gegenseitige Abgrenzung in einzelnen Sprachen ist vielmehr Sache der Überlieferung und der Konvention als der wissenschaftlichen Begründung (z. B. im Russischen sowie im Deutschen wird das Verbalnomen (richtiger) als Angelegenheit der Wortbildung, im Tschechischen als Angelegenheit der Formbildung betrachtet, obwohl die tsch. Verbalsubstantive morphologisch ausgeprägte Substantive sind (vgl. z. B. psaní „Schreiben“ ~ kamení „Gestein“, die nach demselben Paradigma dekliniert werden). Diese Durcheinandersetzung der formbildenden und wortbildenden Mittel enthebt indessen den Sprachforscher nicht der Verpflichtung, diese beiden Sprachebenen prinzipiell auseinanderzuhalten.
Die enge Verwandtschaft der Wortbildung, insb. der Wortableitung mit der Formbildung ist auch Grund dafür, daß sowohl in der slawistischen als auch in der germanistischen Tradition die Wortbildung fast allgemein als ein Teilgebiet der Grammatik betrachtet wird. Einerseits wird sie als ein unmittelbarer Bestandteil der Morphologie, andererseits als ein selbständiges Gebiet der Grammatik neben der Morphologie und Syntax aufgefaßt. So wird die Wortbildung auch in den neuesten Beschreibungen der slawischen Sprachen behandelt.[5] Nur in Minderzahl sind inzwischen diejenigen Forscher, die die Wortbildung als eine selbständige, jedoch sowohl mit der Lexikologie als auch [12]mit der Grammatik eng verbundene Disziplin aussondern.[6] Es fehlen indessen auch nicht Stimmen, die auf die Notwendigkeit der Zuordnung der Wortbildung zur Lexikologie hinweisen.[7]
4. Welche Vorteile auch immer die Eingliederung der Wortbildung in die Grammatik für die praktischen Beschreibungen des Sprachgebäudes haben kann, theoretisch ist sie unseres Erachtens nicht haltbar. Die Verbindung der Wortbildung mit der Formbildung stützt sich, wie bekannt, auf die (teilweise) Ähnlichkeit der Ausdrucksmittel zwischen beiden diesen Gebieten. Zunächst ist jedoch zu betonen, daß auch diese formale Ähnlichkeit nur relativ ist. Die Morphologie als Formbildung hat es nicht nur mit Abänderungen der Wortstruktur zu tun, sondern auch mit Wortverbindungen, syntaktischen Konstruktionen, welche dieselbe Funktion wie die synthetischen morphologischen Formen haben. Auch wenn man sich nur an die synthetischen Formen hält, kann man keine volle formale Gleichheit zwischen der Wortbildung und Formbildung feststellen: die Zusammensetzung z. B., die in der deutschen Sprache eine hervorragende Rolle in der Wortbildung spielt, hat in der Formbildung keine direkte Entsprechung. Andererseits würde den analytischen Formen die Mehrwortbenennung entsprechen, die indessen über den Rahmen der Wortbildung offenbar hinausreicht. Man könnte also höchstens sagen, daß sich die Bereiche der formalen Mittel der Wortbildung und der Formbildung überschneiden. Aber auch diese Feststellung ist nicht unanfechtbar. Denn nicht einmal zwischen Ableitungsaffixen und Flexionssuffixen und -endungen besteht — auch wenn man von der verschiedenen Funktion der beiden im Aufbau der Rede und also auch im Sprachsystem völlig absieht — eine volle formale Gleichheit. Vor allem unterscheiden sie sich wesentlich in der Verteilung, durch ihre Position in der Struktur der Wortform: die grammatischen (flexivischen) Suffixe und Endungen stehen immer am Ende der Wortform, während die wortbildenden Suffixe ihre Stelle zwischen dem Grundmorphem und den flexivischen Suffixen und Endungen haben. (Was die Präfixe betrifft, ist ihre Rolle in der Formbildung unserer Sprachen sehr beschränkt. Für die deutsche Formbildung kommen sie überhaupt nicht in Betracht.)
5. Was wohl noch schwerer wiegt, ist der prinzipielle Gegensatz zwischen den Funktionen dieser beiden Arten von Mitteln, d. h. den Rollen, welche die Wortbildung einerseits und die Formbildung andererseits im Aufbau der Rede und im Sprachsystem spielen. Während die Wortbildung grundsätzlich der Funktion der Benennung von verschiedenen Bewußtseinsinhalten dient, hat die Formbildung die Aufgabe, die Wörter als Benennungseinheiten entsprechend ihrer Funktion in der Sprachäußerung zu formen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Wortbildung grundsätzlich von der Formbildung.
6. Dieser tiefe Funktionsunterschied äußert sich auch im verschiedenen [13]Charakter der Wortbildungs- und der grammatischen Bedeutung. Die sog. Wortbildungsbedeutung, d. h. die mittels des wortbildenden Formans (Mittels) bei einem Teil der gegebenen Wortart ausgedrückte Bedeutung (z. B. die des Orts einer Handlung, des Trägers einer Eigenschaft u. dgl.) verallgemeinert die innere Form, die Motivationsstruktur der einzelnen zu dieser Gruppe gehörenden Wörter. Gegenüber der Einzelbedeutung eines Wortes stellt sie also die Gruppenbedeutung (einer zu demselben Wortbildungstypus oder -modell gehörenden Wortreihe) dar. Die grammatische Bedeutung der Wortform, die bei allen Wörtern derselben Wortart ausgedrückt ist (z. B. Numerus und Kasus der Substantive) und also eine Wortartbedeutung (Klassen-) darstellt, abstrahiert völlig von den Wortbedeutungen und verallgemeinert bestimmte Beziehungsbedeutungen, die mit einem jeden Wort derselben Wortart verbunden sein können und deren Einheit mit den entsprechenden Mitteln die sog. (morphologische) grammatische Kategorie bildet.[8] Mit Rücksicht auf einzelne Wortbedeutungen kann man sagen, daß die Wortbildungsbedeutung eine Gruppenbedeutung ist, die alle einzelnen Bedeutungen der zu dieser Gruppe gehörenden Wörter überdeckt, wogegen die grammatische morphologische Bedeutung von diesen Bedeutungen abstrahiert und auf ihnen lediglich baut. In diesem Sinne unterscheiden sich die beiden „verallgemeinerten“ Bedeutungen wesentlich voneinander.
Bei dem Gegensatz von Wortbildungsbedeutung und grammatischer Bedeutung haben wir es also nicht nur mit verschiedenen Abstraktionsstufen zu tun — Gruppenbedeutung gegenüber Klassenbedeutung; wesentlich ist der Unterschied in verschiedener Qualität dieser Abstraktion. In einer zugespitzten Brachylogie könnte man diesen Gegensatz so ausdrücken, daß die Wortbildungsbedeutung eine verallgemeinerte Strukturbedeutung ist (so wie eine verallgemeinerte lexikalische Bedeutung eine verallgemeinerte globale Bedeutung ist), wogegen die grammatische (= hier morphologische) Bedeutung eine von den real lexikalischen Wortbedeutungen abstrahierte und formalisierte Beziehungsbedeutung ist.
Dieser Qualitätsunterschied verbindet die Wortbildungsbedeutung enger mit der Wortbedeutung (und mit verschiedenen verallgemeinerten Gruppenbedeutungen) im Gegensatz zur grammatischen Bedeutung, die eine gegenüber der Wortbedeutung wesentlich neue Qualität darstellt.
Bei prinzipieller Mittestellung zwischen der lexikalischen und der grammatischen Bedeutung steht also die Wortbildungsbedeutung der lexikalischen viel näher.
7. Daraus würde sich die Forderung ergeben, die Wortbildungslehre als ein spezifisches Teilgebiet der Wortlehre (Lexikologie), bzw. der Onomatologie zu behandeln. Wenn man in Betracht zieht, daß die Wortbildung nur eine bestimmte Quelle der Vervollständigung und der Bereicherung des Wortschatzes und, allgemeiner, des Bestands der Benennungen darstellt, neben anderen Quellen, wie bes. den Bedeutungs- und Bezeichnungsübertragungen, den Mehrwortbenennungen, den Entlehnungen u. a., so unterliegt es keinem Zwei[14]fel, daß es nicht nur Recht, sondern Pflicht der Lexikologie (Onomatologie) ist, sich mit der Problematik der (morphologischen und syntaktisch morphologischen) Wortbildung auseinanderzusetzen und die Wortbildungslehre in ihren Forschungsplan einzubeziehen. Es liegt klar, daß ein jedes Wort Gegenstand der lexikologischen Analyse zu sein hat und daß manche Teilfragen der Wortbildung, wie z. B. die Fragen der Prinzipien von (Einwort)benennungen, das Formen bestimmter lexikalisch semantischer Gruppen innerhalb der Wortbildungstype und dgl., von der rein lexikalsemantischen Wortbildung ganz abgesehen, nur im Rahmen der Lexikologie, bzw. noch breiter der Onomatologie (Benennungslehre) gelöst werden können.
8. Offen liegt indessen die Frage, ob man infolge dieser Sachverhalte die Wortbildungslehre eindeutig in die Lexikologie (Onomatologie) einzubauen hat. Wiewohl wir diese Lösung für die theoretisch einzig richtige halten, läßt sie sich in der Gesamtdarstellung des Sprachgebäudes einer flektierend Sprache konsequent und restlos kaum verwirklichen.
Als eines der wichtigsten Hindernisse, das dem eindeutigen Einbauen der Wortbildung in die Lexikologie (Onomatologie) im Wege steht, erscheint uns dasjenige, daß sowie die Erforschung der Mehrwortbenennungen auf die Syntax (auf die syntaktische Betrachtungsweise) nicht verzichten darf, auch die Wortbildung die morphologische Betrachtungsweise nicht entbehren kann, zumal, wie es insbes. in den flektierenden Sprachen der Fall ist, auch unmittelbar die primär formbildenden Vorgänge für die Wortableitung ausgenützt werden.
In den Sprachen unseres Typus spielt selbst die flexivische Morphologie bei der Wortableitung (Derivation) eine mitbestimmende Rolle.
Würden wir die Morphologie (sowohl flexivische als auch derivative) rein formal auffassen, wie dies noch unlängst in der grammatischen Theorie üblich war (wenn also die Morphologie nur als die „Technik“ galt, die einerseits im Dienste der Syntax (Satzlehre), andererseits im Dienste der Wortbildung steht), würde auch kein Hindernis im Wege stehen, die Wortbildung einfach als ein Teilgebiet der Morphologie — u. zw. Morphologie im Dienste der Lexikologie, also als lexikologische Morphologie — anzusehen. Sobald man jedoch unter der Morphologie — und zu dieser Auffassung bekennen wir uns ohne Vorbehalt — nicht nur die eigentliche Formenlehre (Lehre von der Wortformenbildung), sondern auch die Erforschung und Beschreibung der Funktionen dieser Formen versteht, also zwischen einer formalen und semantischen (funktionalen) Formenlehre unterscheidet,[9] ist eine solche Lösung nicht annehmbar.
Bei der Berücksichtigung aller dieser Tatsachen und Beziehungen erscheint uns als die annehmbarste Lösung, die Wortbildungslehre als eine selbständige Disziplin auszusondern, die zwar vom Standpunkt ihres raison d’être, ihrer kommunikativen Funktion aus einen organischen Bestandteil der Lexikologie (der Onomatologie) bildet, die indessen vom Standpunkt ihrer Ausdrucksmittel wieder in sehr engen Wechselbeziehungen zur grammatischen Morphologie, zur Formbildung steht.
Eine derartige Eingliederung der Wortbildungslehre im Rahmen des gesamten Lehrgebäudes der Sprache spiegelt die Tatsache wider, daß die Wortbildung eine selbständige, relativ autonome Sprachebene bildet, deren bilaterale Einheiten durch Wortstrukturbedeutungen und entsprechende Ausdrucksmittel [15]gegeben sind.[10] Diese Sprachebene steht in engem Zusammenhang zu der eigentlich lexikalischen Sprachebene, deren Einheiten Wörter als Strukturganze mit ihren (globalen) Bedeutungen und ihrer (ebenso global gesehenen) Lautform bilden. Diese beiden Sprachebenen sind miteinander aufs engste verbunden, vor allem dadurch, daß die Wortbildungsebene eine sozusagen organisierende Grundlage bildet, auf der der Wortschatz aufbaut und vor allem mit Hilfe deren sich der Wortschatz verbreitet und bereichert.
Die Wortbildungsebene wirkt sich nicht nur bei der tatsächlichen Wortschöpfung (bei der Neubildung der Wörter) aus, sie hat auch für das Fungieren der Sprache, für die Wortverwendung eine wichtige Aufgabe: sie bleibt sozusagen im Hintergrund als eine Art von fester Unterlage, mit der die variable lexikalische Semantik zu rechnen und sich auseinanderzusetzen hat, die einerseits dem Sprecher eine Möglichkeit bietet, das erforderliche Wort zu finden, in dem er sich auf das Bewußtsein seiner Wortbildungsbedeutung anlehnt, anderseits dem Hörer besonders das Verständnis der Neubildungen und der weniger frequenten Wörter sicherstellt.
Andererseits hat die Wortbildungsebene auch zu den eigentlich grammatischen Sprachebenen enge Beziehungen, zunächst zu der morphologischen Sprachebene, die vor allem auf formaler Ähnlichkeit oder Gleichheit der Ausdrucksmittel der beiden Sprachebenen und auf ihrer Wechselwirkung beruhen, teils aber auch semantisch sind: zwischen den grammatischen (insb. morphologischen) und den Wortbildungsbedeutungen gibt es Übergänge, die die Grenzlinie zwischen beiden Sprachebenen verschwommen machen und die in der Sprachentwicklung zu bestimmten Verschiebungen dieser Linie führen.
Auch die Wechselbeziehungen der Wortbildungsebene zur syntaktischen Ebene, die am klarsten bei der Wortzusammensetzung hervortreten, darf man indessen nicht außer Acht lassen. Zum Unterschied von dem Charakter der Beziehungen zwischen der Wortbildungs- und morphologischen Ebene, sind hier die Beziehungen nicht so in der Form, wie eher in dem Inhalt verankert. Die Zusammensetzungen formen (gestalten) größtenteils dieselben Inhaltstrukturen wie die syntaktisch geformten äquivalenten Mehrwortbenennungen; sie werden daher (oft) als deren Verdichtung, Kondensierung empfunden. In der Entwicklung der Sprache kann man auch solchen Univerbierungen auf Schritt und Tritt begegnen. (Auch manche Ableitungen kann man wohl als Kondensierung von äquivalenten Zusammensetzungen, bzw. unmittelbar Mehrwortbennungen interprätieren.)
Die Wechselbeziehungen zwischen der Wortbildungsebene und den grammatischen Ebenen sind also sehr zahlreich und verschiedenartig. Nichtsdestoweniger können diese engen Beziehungen zur Morphologie und Syntax den prinzipiellen Unterschied zwischen der Wortbildung und der Formbildung sowie zwischen der Wortbildung und der Syntax aufheben.
10. Diese Mittestellung der Wortbildung zwischen Lexikologie und Grammatik muß man bei deren Behandlung konsequent berücksichtigen. Die relative Autonomie der Wortbildungslehre gegenüber der Lexikologie und der Gram[16]matik muß natürlich auch dadurch zu ihrem Rechte kommen, daß sie sich nicht damit begnügt, die Begriffe, Kategorien und Termini der beiden Nachbargebiete zu übernehmen, sondern daß sie ihre eigene Begriffssystematik und Terminologie ausarbeitet. Dieser Schlußfolgerung wird auch in der letzten Zeit Rechnung getragen.
Andererseits darf aus der Tatsache der Autonomie der Wortbildungslehre gegenüber der Lexikologie und Grammatik nicht der Schluß gezogen werden, daß man es hier mit einer „terra nullius“ zu tun hat, die ausschließlich als ein Spezialgebiet den „Wortbildungsforschern“ vorbehalten bleiben soll, und daß es weder dem Lexikologen noch dem Grammatiker obliegt, sich mit der Erforschung dieses Gebiets zu befassen. Gerade das Gegenteil ist richtig:
Wenn auf der einen Seite der Grammatiker nicht umhin kann, bes. bei der Erforschung des morphologischen Systems einer gegebenen Sprache, die Tatsachen der Wortbildung zu berücksichtigen (vor allem den Umstand, daß manche von den Mitteln der Formbildung auch in der Derivation ausgenutzt werden, daß gewisse wortbildende Affixe (bes. Suffixe) die Zuordnung der Wörter zu dieser oder jenen Kategorie, bzw. zu diesem oder jenem Paradigma mehr oder weniger eindeutig prädizieren; daß also die Wortbildungsmerkmale oft zugleich auch Formbildungsmerkmale (kategoriale Merkmale) sind; daß die wortbildenden und formbildenden Vorgänge und Mittel so durcheinander durchflochten sind, daß es sich nicht immer feststellen läßt, wo die einen enden und die anderen beginnen), kann auf der anderen Seite der Lexikologie bei seiner Forschung noch weniger das Gebiet der Wortbildung außer Acht lassen. Insbesondere muß er sich bei der Beschreibung des Wortbestands und seiner inneren Organisierung mit der Wortbildungsbedeutung, also mit der „inneren Form“ der wortbildungsmotivierten Wörter auszugleichen wissen, gleichwie er verpflichtet ist, auch andersartige Motivierung der Wörter in Betracht zu ziehen. Vor allem muß er die Rolle dieser inneren Form in der gesamten Semantik der einzelnen Wörter und ihrer Gruppen werten können, ebenso wie den Belang der Wortbildungsmotivierung für die Organisation des Wortschatzes.
Bei aller Anerkennung ihrer Autonomie hat also der Lexikologe sein eigentliches Gesichts- und Forschungsfeld um das Gebiet der Wortbildung zu erweitern, sich die Gesichtspunkte und Arbeitsmethoden dieser Disziplin anzueignen und so seine spezielle lexikologische Forschung zu unterbauen.
R É S U M É
V čl. se uvažuje o otázce místa tvoření slov v systému jazyka a s ní těsně spjaté otázce postavení nauky o tvoření slov ve vědě o jazyce. Rozborem vztahů tvoření slov k ostatním rovinám jazykové stavby dospívá se k závěru, že tvoření slov tvoří relativně samostatnou, svébytnou oblast mezi gramatickou stavbou a lexikem, funkčně podřízenou lexiku, avšak svými prostředky blízkou gramatické stavbě. Odtud se vyvozuje metodologický požadavek respektovat slovotvorná fakta jak při studiu gramatické stavby jazyka, tak zejména při zkoumání lexikologickém.
[1] Der Beitrag stellt eine kurze Zusammenfassung der Ideen, die der Verfasser seit 1958 in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt hat und die sich an eine reiche konkrete Arbeit auf dem Gebiet der tschechischen Wortbildung stützt. S. besonders K základním otázkám tvoření slov (Zu Grundfragen der Wortbildung) im Sammelband „O vědeckém poznání soudobých jazyků“ (Von der wissenschaftlichen Erkenntnis der Gegenwartssprachen), Praha 1958; Tvoření slov v češtině I, Teorie odvozování slov (Die Wortbildung im Tschechischen I, Theorie der Ableitung), Praha 1962, II. Odvozování podstatných jmen (Ableitung der Substantive), Praha 1962.
[2] S. bes. A. S. Isačenko, Die russische Sprache der Gegenwart I, Formenlehre, Halle (Saale) 1962, S. 4—10 und E. S. Kubrjakova, Čto takoe slovoobrazovanie, Moskva 1965, S. 3—13, wo auch die Grundliteratur zur Frage angeführt ist.
[3] Vgl. dazu mein Referat auf der Germanistentagung über die Lexikologie in Leipzig 1967, veröff. in der Wissenschaftszeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschaftliche und Sprachwissenschaftliche Reihe, 1968 (im Druck).
[4] Vgl. diesbezüglich meine Aufsätze Zur Frage der Konversion und verwandter Wortbildungsvorgänge und -beziehungen, TLP III, 1968 (im Druck) und Zur Frage der sogenannten Nullableitung, Festschrift H. Marchand, Tübingen 1967 (im Druck).
[5] Z. B. die akademische Grammatika russkogo jazyka I, Moskva 1960; B. Havránek — Al. Jedlička, Česká mluvnice, Praha 21963; Fr. Trávníček, Mluvnice spisovné češtiny I, Praha 31951. Vgl. auch P. Erben, Abriß der deutschen Grammatik, Berlin 21961; Duden-Grammatik, Mannheim 1966.
[6] Vgl. V. V. Vinogradov, Slovoobrazovanie v ego otnošenii k grammatike i leksikologii in Voprosy teorii i istorii jazyka, Moskva 1952.
[7] Diese letzte Ansicht, zu der sich auch der Verfasser bekennt, wird vor allem von einigen sowietischen Forschern und bei uns von A. S. Isačenko vertreten; vgl. z. B.: A. I. Smirnickij, Leksikologija anglijskogo jazyka, Moskva 1956 und Leksikologija sovremennogo anglijskogo jazyka, Moskva 1959; K. A. Levkovskaja, Nemeckij jazyk, I., Moskva 1960; A. S. Isačenko, Grammatičeskij stroj russkogo jazyka v sopostavlenii s slovackim, I. Morfologija 1, Bratislava 1954 und Die russische Sprache der Gegenwart, I. Formenlehre, Halle (Saale) 1962.
[8] Die grammatische Bedeutung, welche die semantische Komponente der grammatischen Kategorie bildet, könnte man allerdings auch als Verallgemeinerung erfassen, jedoch nicht der Wörter einer Wortart, sondern nur bestimmter Wortformen (im Rahmen einer Wortart), die in denselben Satzkontexten auftreten können.
[9] Vgl. z. B. auch W. Schmidt, Grundfragen der deutschen Grammatik. Eine Einführung in die funktionale Sprachlehre, Berlin 1966.
[10] Zur Frage der Wortbildung als selbständiger Sprachebene vgl. V. V. Lopatin — V. A. Red’kin — I. S. Uluchanov, K sootnošeniju edinic slovoobrazovanija i morfonologii im Sammelband Jedinicy raznych urovnej grammatičeskogo stroja jazyka i ich vzaimodejstvie, Moskva 1967.
Slovo a slovesnost, volume 29 (1968), number 1, pp. 9-16
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